Ich liebe die Menschen, das ist meinen
Freunden und Bekannten mindestens so bekannt, wie sie es unglaublich
finden. Und ich liebe es auf meine Mitmenschen zu treffen, sie zu
beobachten und mir ab zu, ungefragt, lustige Geschichten von ihnen
erzählen zu lassen.
Gestern Abend lag der Fall ein bisschen anders, aber ich habe mich nicht minder amüsiert - und vielleicht habe ich mich auch ein kleines bisschen geärgert.
Ich saß mal wieder in der Tram.
Nein, diesmal war es keine neue Vario-Tram, sondern eine von diesen
Übergangsmodellen - die Frau mit den schlechten Zähnen nannte sie die
"gepimpte Tram", mit den Holzsitzen, von denen ein unbedarfter Fahrgast
schon mal rutschen kann, wenn der Trambahnfahrer ein Rowdy ist und
ausprobiert, wie schnell er mit seiner Tram in diese oder jene Kurve
fahren kann. Als "Sitzengebliebener" kann man dann nur den
Heruntergerutschten aufhelfen, assistieren, den verstreuten
Tascheninhalt wieder einzusammeln und sein kleines Fäustchen drohend
Richtung Fahrerkabine schütteln.
Aber zurück zu meiner
Trambahnfahrt gestern Abend. Ich wollte nach Hause. Und ich hatte ein
paar größere Gepäckstücke bei mir, die ich auf den Nebensitz gestellt
hatte. Und, das ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt in der
Geschichte, rund die Hälfte der übrigen Sitzplätze in der Bahn waren
frei. Und ich saß zur Fahrtrichtung.
Die Frau, um die es in
meinem kleinen Aufsatz gehen wird, stieg zu und setzte sich zuerst in
meine Nähe - gegen die Fahrtrichtung. Städter und Menschen mit
ÖNV-Erfahrung wissen, dass Damen Ende 50 auf gar keinen Fall und nur
über ihre Leiche gegen(!) die Fahrtrichtung sitzen können.
Jaja, ätzt da der Zyniker in mir, aber Kreuzfahrten könn'se machen noch
und nöcher - und die haben den gleichen Effekt aufs Innenohr. Aber gegen
die Fahrtrichtung Tram fahren könn'se nicht!
Die Best
Ager-Dame stand also wieder auf und steuerte geradewegs auf mich, d.h.
auf den Platz neben mir, auf dem, wir erinnern uns, mein Gepäck - in
Fahrtrichtung - abgestellt war, zu. "Darf ich mich da hinsetzen?" ließ
sie verlauten und deutete, mit Kinn oder Regenschirm, ich weiß es nicht
mehr genau, auf den Platz mit meinem Gepäck. "Natürlich." war meine
Antwort, nicht ohne meinen Blick über die zahlreichen freien Sitzplätze
schweifen zu lassen.
Ich packte also meine sieben Sachen vom
Nebensitz und türmte sie so gut es ging auf meinen Schoß. Die Dame
setzte sich und richtete sich, mich dabei das ein oder andere Mal in die
Seite knuffend, bequem auf ihrem neuen Sitzplatz ein. Da ich von
vornherein mit ihrer neuen Platzwahl nicht ganz einverstanden war, ließ
ich mich, geknufft und gepufft, einen Gepäckturm auf meinen Knien
balancierend, zu einem unwirschen Kopfschütteln und einer leichten
Verdunkelung meiner Gesichtszüge hinreißen. Das hatte zur Folge, dass
meine neue Sitznachbarin mit Blick auf meine Taschen schnippisch fragte,
ob das jetzt zu viel für mich sei, nicht ohne ein entrüstetes
Zungenschnalzen und ein Kopfschütteln hinterherzuschicken.
Ich
antwortete darauf lakonisch mit einem "Nein, das passt schon." Ich bin
grundsätzlich ein höflicher Mensch. Aber eigentlich hätte ich sagen
wollen: "Auch wenn es ihnen ungewöhnlich erscheinen mag, aber ich finde
es sehr unhöflich von ihnen, mir ihre neue Platzwahl zuzumuten, wo doch
noch so viele andere Plätze in der Bahn frei sind, die auch in
Fahrtrichtung sind!" Ich würde mit der Standardantwort rechnen, auf die
zickige Standard-Best-Agerinnen programmiert sind: "Dann setzten sie
sich halt wo anders hin, wenn ihnen was nicht passt!" Meine Erwiderung
wäre ungefähr so ausgefallen: "Jetzt finde ich ihr Verhalten nicht nur
unhöflich, sondern auch respektlos. Und da meinen Charakter eine
ordentliche Portion Sturheit auszeichnet, bleibe ich genau hier sitzen
und werde mich die gesamte Dauer unserer gemeinsamen Fahrt, darüber
amüsieren, wie sich sich über mich ärgern. Und wenn ihnen das nicht
passt, dann müssen sie sich halt doch wo anders hinsetzen. Aber bitte
nehmen sie mir nicht mein Amüsement und bleiben sie einfach neben mir
sitzen. Wir werden uns schon arrangieren - jeder auf seine Weise." Ich
hab natürlich nichts gesagt - ich bin einfach zu höflich.
Als
kleine Ergänzung: Statistiken haben ergeben, dass die Überlebenschance
bei einem Zugunglück größer ist, wenn man gegen die Fahrtrichtung sitzt,
da man beim ersten Aufprall in den Sitz gedrückt wird und erst beim
Rückstoß zu purzeln beginnt.